Der Meister-Traum, von Andrea Dahmen aus Augsburg

Als ich so ungefähr vierzig Jahre alt war, regte sich in mir eine Stimme, die nach dem Sinn des Lebens fragte. Ich wusste keine Antwort. Mir war klar, wie viel meiner Lebenszeit schon verstrichen war. Ich musste dringend etwas unternehmen, etwas, das Licht in dieses dunkle Sehnen nach Erfüllung brachte. Ich war mir sicher, dass eine östliche Philosophie für mich hilfreich wäre. Nur welche? Ich besorgte mir einige Bücher über Buddha, sein Leben und seine Lehre und eines Tages versuchte ich, nach seinen Anweisungen zu meditieren. Ich setzte mich auf ein Kissen im Schneidersitz auf den Boden, atmete tief ein und aus und wartete, dass sich irgendetwas ereignete. Aber es tat sich gar nichts, außer dass mir ein Fuß eingeschlafen war. Mir wurde klar, dass ich alleine nicht weiterkam. Ich brauchte Anleitung, einen Lehrer. Aber wen? Ich versuchte es noch ein paar mal, und dann gab ich auf.

Einige Zeit später, hatte ich einen ganz besonderen Traum. Ich befand mich in einer riesigen Kirche, inmitten einer großen Menge Menschen. Wir standen da und warteten. Ich wusste nicht worauf. Plötzlich ertönte eine Stimme: "Da kommen die Meister!" Vorne links neben dem Altar, öffnete sich eine Tür und heraus kamen in einer langen, langen Reihe, die Meister dieser Welt aus allen Zeiten und allen Religionen. Ich sah Schamanen in farbigen Gewändern, Mönche in ihren schwarzen und braunen Kutten mit geschorenen Köpfen und langen Bärten, Inder, Chinesen, Europäer und Indianer. Plötzlich sah ich einen riesigen Mann auf mich zukommen. Er hatte einen kahl rasierten Kopf, braune Haut und eine heldische GestaIt. Über seinem bloßen, muskulösen Oberkörper trug er eine Art Toga. Er ging ganz nah an mir vorüber. Als er auf meiner Höhe war, sprang plötzlich ein Wesen, das aussah wie ich selbst, aus meiner Brust und eilte zu ihm. Das Wesen, das ich war, hielt ihn auf und redete auf ihn ein, bat inständig wieder und wieder. Ich konnte nicht hören, was es sagte. Da wendete sich der Meister um und sah mich an. Für einen kurzen Augenblick schenkte er mir ein Lächeln voller Barmherzigkeit, dann ging er weiter. Sofort wachte ich auf. Ich wusste: Das war mein Meister! Aber wo lebte er? Wie war sein Name, und wie sollte ich ihn finden? Ich hörte mich herum, aber niemand konnte mir helfen. Einmal traf ich ein Mädchen aus einer spirituellen Gruppe und erzählte ihr von meinem Traum. "Das kann nur unser Meister sein", sagte sie. "Ich werde Dir ein Bild von ihm schicken!" Das Foto zeigte einen indischen Meister mit Turban und langem Bart. Ich musste ihr absagen. Das war nicht der Meister aus meinem Traum.

Jahre vergingen. Wir waren umgezogen, und ich arbeitete in Heidelberg. Eines nachmittags ging ich eine kleine Gasse herunter. Plötzlich blieb ich vor einem kleinen Musikladen stehen. Die Tür stand offen, drinnen hing ein großes Bild von einem Mann mit heldischer Gestalt, brauner Haut und rasiertem Kopf, wie er gerade eine gewaltige Anzahl Gewichte stemmte. Ich erkannte ihn sofort: Es war mein Meister. Ich ging in das Geschäft und fragte, wer der Mann auf dem Bild war. "Das ist Sri Chinmoy, ein Meister der Meditation!", sagte man mir. "Das ist mein Meister", antwortete ich und erzählte von meinem Traum. Ich kaufte sein Buch "Den Weg der Meditation gehen" und fing an, nach seiner Anleitung zu meditieren. Eine große Begeisterung und Freude erfasste mich. Als ich Sri Chinmoy bei einem seiner Konzerte in Frankfurt das erste Mal sah, war ich ganz erstaunt, dass er gar nicht so riesig war wie in meinem Traum. Nur in der inneren Welt hatte er diese gigantische Gestalt. Ich wurde Sri Chinmoys Schülerin und habe seitdem durch Meditation nach seiner Lehre, enorm viel Freude und Erfüllung in meinem Leben gefunden.

Andrea Dahmen
Augsburg, 30. Juli 2009