Der Lotossitz, von Nilima, New York, USA

In den späten sechziger Jahren begann ich meine eigene Existenz, sowie die Welt im allgemeinen zu hinterfragen. Als ausgezeichnete Schülerin auf einer der besten höheren Schulen im Umland von New York, in Westchester, war ich äußerst zuversichtlich, auf einer guten Universität aufgenommen zu werden. Meine Ernüchterung und Verunsicherung ließen mich allerdings rastlos werden und meine Begeisterung für die Schule erlöschen. Besonders in meinem zwölften Schuljahr, fiel es mir schwer mich zu entspannen und sogar noch schwerer, mich auf meinen Lernstoff zu konzentrieren. Meine andauernden Spannungen machten sich bei mir vor allem beim Ausdruckstanzen bemerkbar. Ich war immer sehr sportlich gewesen und hielt mich mit Tennis und Schwimmen in Form. Wenn es aber um den feinmotorischeren Umgang mit den unterschiedlichsten Muskelgruppen beim Tanzen ging, dann fiel mir auf, dass ich noch viel lockerer werden konnte.

Ich verkannte, dass ich eigentlich nach einer neuen Lebensweise suchte, aber es verstärkte sich der Wunsch, mich von den täglichen Anspannungen loszulösen, und ich fühlte zunehmend, dass es einen tieferen Grund für das Dasein geben musste. Eines Tages beobachtete ich eine Freundin, wie sie in der Ecke eines Klassenzimmers saß und damit rang, ihre Beine in die Lotussitz-Stellung zu bekommen.
Da ich nicht den blassesten Schimmer davon hatte, was sie damit bezwecken wollte, hakte ich nach. Sie erklärte mir, dass sie Yoga-Übungen mache und überredete mich, zu einem ihrer Kurse mitzukommen. Teils aus Neugierde und teils weil ich immer offen für neue Erfahrungen war, ging ich mit. Ich sollte ergänzen, dass in jenen Tagen, im Gegensatz zu heute, das Wort "Yoga" kein gängiger Begriff war, und die Konzepte Hatha-Yoga und Meditation ziemlich esoterisch und geheimnisumhüllt anmuteten.

So kam es also, dass ich im Herbst 1967 begann zum Yoga-Unterricht in Westchester zu gehen, der von Sarama. einer Schülerin Sri Chinmoys gehalten wurde, die erst kürzlich dessen spirituellen Weg eingeschlagen hatte. Den Yogaübungen folgten jeweils kurze Meditationen, von denen ich mir eine Verbesserung meiner Konzentrationsfähigkeit erhoffte. Da ich zum Atheisten erzogen worden war, begegnete ich dieser neuen Beschäftigung nicht mit irgendwelchen religiösen Motiven. Nach einigen Monaten jedoch fiel mir auf, dass ich während den Meditationen, gewissermaßen spontan, begann, zu einer Art höheren Kraft zu beten. Ich fühlte, dass wenn ich nicht die Möglichkeit einer spirituellen Dimension im Leben in Erwähnung ziehen würde, ich mich stets fragen müsste, ob es so etwas tatsächlich gibt oder nicht. Zudem begann ich, während dieser Zeitspanne zum Vegetarier zu werden, auch etwas, was damals nicht im gleichen Maße anerkannt war wie heute.

Irgendwann begann Beatrice Serlin, eine Frau mittleren Alters, die im gleichen Stadtteil wie ich lebte, mit mir den Yogakurs zu besuchen. Im September 1968 zeigte die Meditationslehrerin, ohne unser Wissen, Sri Chinmoy Bilder von uns, der daraufhin Beatrice und mich zu den Meditationen in seinem erst kürzlich bezogenen neuen Heim im New Yorker Stadtteil Queens einlud. Ich wusste kaum, was ein spiritueller Meister war, entschied mich nichtsdestotrotz hinzugehen. In jenen Tagen waren die einzigen Aktivitäten des Sri-Chinmoy-Zentrums die Donnerstagabend- und Sonntagnachmittag-Veranstaltungen und ich passte ganz gut zu den anderen jungen Frauen in Miniröcken und den langhaarigen Männern, die wie Hippies aussahen und erst kürzlich zu der Kerngruppe von Schülern Sri Chinmoys, die im mittleren Alter waren, gestoßen waren.

Nach zwei oder drei Meditationen sagte mir Sri Chinmoy, dass ich mich mehr auf die Öffnung meines Herzens konzentrieren solle. Ich entschied mich, dies für genau einen Monat lang zu Hause zu üben, bevor ich wieder an den Meditationen im Sri-Chinmoy-Zentrum teilnehmen würde. Ich erzählte niemandem, weshalb ich nicht mehr nach Queens ging oder was meine Absichten waren. Es war mein eigenes kleines, spirituelles Geheimnis. Ich fuhr mit meinen diversen Tätigkeiten fort, während ich mich gleichzeitig auf mein Herz fokussierte. Zur Erinnerung hatte ich sogar Anhänger und Anstecker über meinem Herzzentrum angebracht. Als das Monatsende nahte, fühlte ich mich ein wenig unsicher, ob ich ausreichend erfolgreich gewesen war. Deshalb dachte ich darüber nach, vielleicht noch etwas zu warten, bevor ich wieder die Meditationen besuchte.

Siehe da, genau am letzten Tag des Monats meiner selbst erwählten Sadhana oder spirituellen Übung, rief mich meine Yogalehrerin an und sagte: "Ich habe gerade einen Anruf Sri Chinmoys erhalten. Er hat sich den letzten Monat über auf dich konzentriert, und du bist dabei, Kind!" Dies war die Art und Weise wie ich erfuhr, als Schülerin angenommen worden zu sein.

Wenn zu jener Zeit auch vieles als Zufall anmutete, hatte Sri Chinmoy dennoch sein Mitgefühls-Netz weit ausgeworfen, um an allen Enden Seelen einzufangen. So viele Freunde und Bekannte aus Kindheitstagen in Westchester wurden, voneinander unabhängig, auf verschiedenste Art, ein Teil meiner spirituellen Familie. Beatrice brachte schon bald ihren Sohn zu Sri Chinmoy, und auch er wurde Schüler. Meine Mutter unterrichtete Sport an einer örtlichen höheren Schule und einige ihrer Schüler, denen ich hin und wieder begegnet war, wurden Schüler. Jahre später, am Lebensabend meiner Eltern, sagte Sri Chinmoy, dass er sie als Schüler betrachte und lobte zudem die Aufnahmefähigkeit meines Bruders.
Im Rückblick wird mir klar, dass Sri Chinmoy, auf die eine oder andere Weise, all seine spirituellen Kinder aufgespürt hat. Nun, da mein 41-jähriges Jubiläum als Schülerin heranrückt, bin ich überwältigt von Dankbarkeit für dieses unfassbare Wunder. Es hat sich jedoch tatsächlich ereignet: ich wurde mit erst 18 von Sri Chinmoy gefunden, und habe, seit diesen frühen Tagen seiner großartigen Mission im Westen an, seine Segnungen empfangen.

Nilima, New York, USA