Jener Platz in meinem Herzen, von Sumangali Morhall, York, Großbritannien

Als ich meinen zweiten Neffen das erste Mal hier auf Erden sah, da war er gerade einmal acht Tage alt. Seine Gesichtsausdrücke wechselten ständig einander ab, als würde er träumen. Von was konnte er bereits träumen? Vielleicht waren es Erinnerungen an höhere Welten oder frühere Leben. Ich dachte darüber nach, von was er denn später einmal träumen könnte, hoffte, dass wir Freunde würden, die zusammen Nüsse aufsammeln und bei einem Glas Limonade im Garten seiner Großmutter lachend zusammen sitzen.

Für ein Neugeborenes war er ziemlich groß, mit geballten Fäusten und einem entschlossenen Blick, so dass ich vor ihm fast ein wenig Angst hatte. Es erscheint mir mutig, überhaupt geboren zu werden, menschlich zu sein, auf der Erde zu leben.
Trotz diesem so intensiven Erlebnis, hat niemand Erinnerungen an seine Geburt. Jeder stößt mit seinem ersten Atemzug einen Schrei aus. Raue Klänge, Kälte, Bewegung, Schmerzen, Erschöpfung, Trennung von der Quelle, dies alles kann nicht auf einmal ertragen werden. Da gibt es keine eigene Kraft, von der man Gebrauch machen, und nichts Gewisses oder Vertrautes, auf das man sich verlassen könnte. Julius Cäsar, Abraham Lincoln, Albert Einstein, Muhammad Ali, wie bedeutend und mächtig sie auch später geworden sein mögen, kamen doch alle nackt und allein auf die Welt, und weinten.

Meine Kindheitstraumata blieben mir wohl länger als ihnen erhalten, und vielleicht länger als den meisten. Das Weinen verstummte, verschwand jedoch nicht. Das Leben war eine Schnellstraße und das menschliche Gefährt schien allzu sehr verletzlich auf ihr zu sein. Ich erlebte den Schmerz anderer und fühlte ihn als meinen eigenen. Es bildeten sich keine Schutzschilde um meine Gedanken oder Sinne.
Ich war ein kränkliches Kind – mein erster Traum, an den ich mich erinnere, handelte vom Tod. Aus Furcht lag ich oft wach, die Erlösung durch den Schlaf herbeisehnend, doch wiederum graute mir mehr vor meinen eigenen Träumen, als vor den Wachstunden.
"Leere deinen Verstand," sagte meine Mutter, "denke an positive Dinge oder denke überhaupt nicht." So erzeugte ich meine erste winzige Friedensflamme in mir. Dadurch erhellte ich ein wenig meine Welt, in dieser seltsamen, immer wiederkehrenden Nacht; das Licht ergoss sich in die Dunkelheit, die so im Widerspruch zu meiner sicheren und freundlichen Situation stand.

Ich machte mir um das Leben und dessen Ende Sorgen, um die Welt und mich auf ihr, um das Klein sein und das Größer werden. Ich befürchtete, dass Gott mich auf Erden vergessen hatte. Dies war am seltsamsten: Ich wurde zum Atheisten erzogen, glaubte jedoch heimlich immer an Gott, dass es viel mehr geben musste als nur die irdische Welt, dass der Tod nicht das Ende sein konnte. Gott sei dafür gedankt.
Es war ein schwacher Glaube, vergleichbar mit dem Glockengeläute einer Kirche, welches in der Ferne verklingt, oder einem Foto, welches fast zur Unkenntlichkeit verblasst ist. Es gab niemanden, der diesem Bild wieder hätte schärfere Konturen geben können. Anderen gegenüber einzugestehen, dass ich an Gott glaubte und mich Ihm näher fühlen wollte, wäre als Schwäche gedeutet, gar als illusorisch abgetan worden, als hätte ich damit zugegeben, mein Leben nicht selbst im Griff zu haben.
Aber sowieso wusste es niemand. Niemand wusste, wo wir sind, oder wie weit sich das Universum erstreckt. Niemand wusste mit Gewissheit, was nach dem Tod geschieht. Niemand wusste, wo Gott ist. Es schien sich auch niemand daran zu stören. Dies störte mich am meisten.

Ich stolperte durch meine Jugendjahre, so gut wie es irgendjemand kann, immer noch von Ängsten heimgesucht, die ich nicht benennen konnte, immer mehr die Verletzlichkeit einer Welt erspürend, die ich nicht verstand. So, wie ich heranwuchs, tat es auch die Dunkelheit. Ich war in ihr gefangen, als Sklave meiner eigenen Furcht. Auch die blasse Erinnerung an Gott wurde von ihr verschluckt, und ich war fürchterlich alleine.

Das Glück hat die Angewohnheit mir zu folgen, insbesondere, wenn ich es am meisten benötige. In meinem Umfeld lebte eine Frau, die sich selbst das Meditieren beigebracht hatte. Sie gab mir einige Bücher, auf dass ich es ihr gleichtun konnte. Sie sprach über Gott auf natürliche Art und Weise, wie ein Freund es tut. Das Bild nahm wieder schärfere Konturen an, nach und nach.

Durch jeden meiner Versuche, erhielt ich eine Stärke jenseits meiner eigenen Fähigkeiten, das Glück eines Gartens erntend, viel großzügiger als mein eigener. Ein Garten mit immerreifen süßen Früchten, in dem es stets Sommer war. Ich wagte mich daran zu erinnern, dass mein Leben keine Soloreise war, sondern von jemand Größerem gelenkt wurde. Endlich konnte ich aufatmen, fast so, als atmete ich das erste Mal.
Eines Tages bot ich der Furcht die Stirn, und sie verschwand wie eine Schlange aus Rauch gemacht. Gott hatte mich nicht vergessen; ich hatte Ihn vergessen.
Weil ich aber eher ein Schönwetterfreund Gottes war, gestaltete sich das Meditieren als schwierig. Obgleich ich täglich übte, fehlte es meinen Bemühungen an Zielstrebigkeit, außer ich war verzweifelt oder in Schwierigkeiten. Ich schloss einen Kompromiss – eine Art gegenseitige Übereinkunft – mit der Schlange aus Rauch. Sie durfte in der Nähe bleiben, ihren Bereich jedoch nicht verlassen. Gott lebte irgendwo darüber, und ich war oft zu bequem, die Stufen nach oben zu nehmen, und rief Ihm, vielleicht von der zweiten Treppenstufe aus, jeden Morgen ein oberflächliches Hallo zu.

Meinen Mut bezog ich daher aus bequemeren Quellen, von jener Sorte, die man in einer Flasche oder Tablette kaufen kann, die man durch oberflächliche Freundschaften und kleine äußere Siege erhält. Es war ein schwaches Glücklichsein, und, wie die meisten unechten Dinge, brach alles nach ein paar Jahren auseinander. Ich rannte ihm rund um die ganze Welt hinterher, bis ich zu meinem Ausgangspunkt zurück kam, seinerzeit mit leeren Händen.
Ich glaube, es war wie eine Neugeburt, ein Segen, in Form von Vernichtung. Ich hatte einen Unfall, bei dem ich fast mein Leben verlor. Kurze Zeit später hatte ich kein Geld mehr, keine Arbeit, keine engen Familienangehörigen in meinem Umfeld, keine Freunde, kein Zuhause, kaum irgendwelche Besitztümer, keinen Funken Hoffung oder Selbstachtung. Ich war hilflos wie ein kleines Kind und weinte ziemlich viel.

Ich wusste, dass ich lernen musste richtig zu meditieren. Ich musste jemanden finden, der dies konnte und mir beibringen würde. Ich grub die Bücher wieder aus, die mir die Wohnungsnachbarin einmal gegeben hatte und versuchte es mit einer neuen Übung: Die spirituelle Führung. Es begann mit Vorstellungskraft, wie alle diese Visualisierungsübungen beginnen. Ich wartete an einem Strand in meinem Herzen auf jemanden, der mich lehren konnte, und schließlich kam er.
Es war ein anmutiger indischer Mann, erfüllt von Sanftmut und Herzlichkeit, jedoch mit der Stärke von Galaxien, enthalten in menschlicher Form. Er liebte mich auf eine Art, als hätte er mich schon immer gekannt. Er hörte zu und verstand, ohne Urteil und Strenge. Er ermutigte mich, aufrichtig, nicht nachgiebig, und nicht mit Worten, sondern in Stille - Weisheit und Frieden wie Düfte verströmend. Ich hatte sie nur einzuatmen.
Hier war jemand, der wusste. Er kannte Gott. Alles, was ich nicht verstand, war ihm bereits bekannt. Er brauchte es mir nicht zu erzählen, die Tatsache, dass er es wusste, reichte mir völlig aus - dies ihn ihm zu sehen und zu spüren. Er vereinigte alle Gegensätze in sich, nach denen mich schon immer verlangt hatte: Feinsinnigkeit und Gewissheit, Schönheit und Sinn für das Praktische, und vor allem, eine unerschütterliche innere Ruhe.
Er beantwortete mir nichts oder löste irgendetwas unverzüglich, jedoch, weil ich mich in seine Obhut begeben habe, erkannte ich nun meine Lebensaufgaben, und spürte ausreichend Stärke, sie auch zu erfüllen. Innerhalb eines Jahres erhielt ich eine gute Arbeitsstelle, ein Auto und ein wunderschönes Zuhause. Ich war abgesichert und gesund, herausgefordert von der Welt, jedoch nicht länger von ihr in Schrecken versetzt.

Ich wollte mehr lernen, mit anderen zusammen treffen, die mit den Geheimnissen der Meditation bereits vertraut waren. Ich wollte mit ihnen gemeinsam üben, neue Techniken herausfinden, Erfahrungen austauschen. Das Sri-Chinmoy-Zentrum war diesbezüglich der erste und einzige Ort, den ich für mich entdeckte.
Ich dachte, dass ich mir wohl alles nur eingebildet haben musste. Konnte es solch einen Menschen wirklich geben, wie jener, dem ich mich tagtäglich in jenem Jahr anvertraut hatte? Doch hier war er, auf Bildern und Filmaufnahmen. Er war in mein Leben gekommen. Er war schon immer da gewesen. Ich konnte seine Worte lesen und seine Lieder singen.

Letztendlich konnte ich nun in seiner äußeren Präsenz sein, wie ich es so oft in meinem Herzen getan hatte. Ich kann nicht der Grund für mein Glück sein. Ich bin klein und voller Unvollkommenheit. Göttliche Liebe jedoch berührt die ganze Schöpfung wie die Strahlen der Sonne. Glücklicherweise müssen wir nicht darauf warten, uns sie zu verdienen.
Durch Sri Chinmoy wurden mir Fragen beantwortet, die in noch gar nicht formuliert hatte. In seinem kurzen Leben von 76 Jahren gab er allen Menschen in gleichem Maße und in reichlichem Ausmaß: nicht das, was verdient gewesen wäre, sondern was notwendig war. Durch Dichtung, Lieder, körperliche Leistungen und stille Meditation, schuf er Landkarten für uns: Landkarten vorhandener innerer Dimensionen und anderer Dinge, die wir noch lange nicht werden erreichen können.
Manchmal vermisse ich ihn. Mir standen zehn Jahre zur Verfügung, mich an die Annehmlichkeit seiner äußeren Erscheinung zu binden. Jedoch weiß ich, dass er mir viel mehr als nötig gegeben hat, und viel mehr, als mir die ganze Welt je geben könnte. Wenn ich ihn vermisse, dann fällt mir wieder ein, dass ich nur jenen Platz in meinem Herzen aufsuchen muss und er wird zu mir kommen.

Sumangali Morhall, York, Großbritannien