Sri Chinmoys Friedensvogel-Zeichnungen, von Chidananda Burke, New York

[Dieser Artikel wurde vor einigen Jahren, nach dem Besuch der Ausstellung „Eine Millionen Vogelzeichnungen“ des Künstlers Sri Chinmoy in Ottawa, geschrieben.]

Es fühlt sich wie eine riesige Vogelvoliere an. Hunderttausende Vögel haben hier ein vorübergehendes Zuhause gefunden – sie sitzen auf den Fensterbänken, krallen sich an den Wänden fest, nisten in den Bogendurchgängen und Vorhallen. Überall ist Bewegung – in großen Parabeln gleiten die Vögel durch die Luft ... wie riesige Wasserfälle stürzen sie von der Decke … wie Lichterscherben zersplittern und zerstreuen sie sich in den Sälen. Ein vierstöckiges historisches Gebäude im Stadtzentrum Ottawas ist in eine der erstaunlichsten Kunstgalerien verwandelt worden.
Diese Ausstellung „Eine Million Vogelzeichnungen“ des indischen Künstlers Sri Chinmoy ist auf viele Weisen einzigartig. Zum einen sind es laut Sri Chinmoy keineswegs Darstellungen von Vögeln, sondern Darstellungen der menschlichen Seele in der Gestalt von Vögeln. In der Tat ist jeder Vogel eine Imitation von Unsterblichkeit, ein Bruchstück der Göttlichkeit, die er mit seinem Pinsel eingefangen und vom Himmel herab gebracht hat. Dies ist jedoch nicht sehr verwunderlich, denn Sri Chinmoy ist nicht nur Künstler, sondern auch ein bekannter spiritueller Lehrer und Mystiker. Diese eine Million Seelenvögel sind innere Visionen, die aus der Tiefe seiner Meditation emporgestiegen sind. Mit Hilfe von Feder und Pinsel hat Sri Chinmoy ihnen Form verliehen.

„Jeder einzelne Vogel ist ein Gebet meines Herzens“, erklärt er. „Diese Gebete richten sich an meinen Höchsten Absoluten Herrn.“ Durch das Zusammenströmen von einer Million Gebeten ist diese Galerie wahrlich zu einem Tempel der Hingabe geworden. Diese Gebetsvögel haben jedoch nichts feierlich Ernstes an sich. Sie vibrieren, im wahrsten Sinne des Wortes, vor Energie. Die Kurven ihrer Flügel, jede einzelne Linie ihrer Schnäbel, jeder zögerliche Schritt mit ihren neu entdeckten Beinen, verkörpern ein Gefühl der Freude. Wenn diese Vögel Gebete sind, dann verehrt der Künstler damit die Dynamik und Vielfalt des Lebens selbst.

Die Größe der Vögel reicht von ein paar Millimetern bis hin zu 3 oder 4 Fuß, sie wurden mit Buntstiften, Acrylfarben, Bleistiften und selbst mit Magic Markern auf Papier, Reispapier, Stoff, Schaumstoff oder in Notizbücher gezeichnet. Sie erscheinen einzeln und in Gruppen, als Noten auf Notenpapier, als Nachrichten auf Postkarten oder lugen aus mit dem Computer gezeichneten Kreisen hervor. Viele der Vögel, vor allem die größeren, haben ihre Eigenarten oder eine eigene Persönlichkeit. Manche blicken mutig und mit erwartungsvoller Neugier aus ihren Rahmen in die Welt hinaus. Andere sind stolzgeschwellt wie Primadonnen, oder scheu und graziös wie Tänzer. Wieder andere schauen erstaunt drein, ja sogar verwirrt, oder fröhlich, eitel, stolz, zweifelnd. Einige schauen dem Betrachter traurig, andere mitfühlend entgegen. Manche sind mit sich selbst beschäftigt und sind sich der Welt um sie herum nicht bewusst. Einige sehen völlig dumm aus, andere sprühen vor Intelligenz.

In vielen dieser Kreaturen nimmt man eine Eigenart oder Verspieltheit wahr, die ziemlich entzückend ist. Ihre winzigen Augen scheinen in alle Richtungen zu schauen – über ihre Schultern, um Ecken, hinauf in die Luft. Ihre runden Körper sind mit jeder erdenklichen Tätigkeit beschäftigt – sie steigen in die Lüfte, sie stürzen auf die Erde herab, sie strecken ihre Beine aus, sie riechen an einer Blume, sie graben ihren Kopf in die Erde. Manche Vögel sind wie Seelenfreunde - für immer zu zweit; andere fliegen Seite an Seite in großen Kolonnen – wie ein ganzer Familienstammbaum. Manchmal sehen wir einen großen Muttervogel, der von hunderten Sprösslingen umgeben ist, so als ob die Nestlinge eine Erweiterung des Bewusstseins der größeren Vögel sind – wie eine Erklärung oder eine Fußnote. Verschiedene Arten können auf einem Gemälde gleichzeitig erscheinen, zum Beispiel wenn hunderte kleine mit Tusche gezeichnete Vögel um einen großen ruhenden Vogel schwirren, der mit einem Magic Marker gezeichnet wurde. Einige der größeren Vogelseelen bestehen aus tausend kleineren Vögeln. Die Kleinen bilden die Schnäbel und Körperumrisse der größeren Vögel.

Die vielleicht erstaunlichsten Bilder sind jene, die man als ‚Gottheitsgemälde‘ bezeichnen könnte. Sie bestehen aus zehntausenden winzig kleinen, bunt gefiederten Vögelchen. Die Vögelchen selbst sind fast zu winzig, um sie zu erkennen; nur einen Eindruck von Bewegung kann man wahrnehmen, eine Ansammlung von Bewusstsein, die von den Leinwänden pulsiert. Aus der Ferne betrachtet, sehen die Vögel wie eine Reihe gepflügter Felder aus, die man von hoch oben vom Himmel betrachtet – unzählige Reihen mikroskopisch kleiner Seelen, deren Wege sich auf der Oberfläche der Leinwand kreuzen und trennen. Jedes Feld oder jede Gruppe von Vögeln hat eine eigene Form, eine eigene Farbe, eine eigene Bewegung. Und innerhalb jeder Gruppe gibt es andere Gruppen – kleine rote Vögel, die innerhalb des größeren Musters aus grünen Vögeln ihre eigene Formation fliegen, so wie verschiedene Bewusstseinsebenen die ineinanderfließen. Es ist einfach zu komplex, zu überwältigend für den menschlichen Verstand, um es verstehen zu können. Die Bilder scheinen überirdisch, nicht wirklich menschlich zu sein – so wie das Gesicht Gottes.
Sri Chinmoy hat es geschafft, ein künstlerisches Werk zu kreieren, das so beeindruckend wie die Monolithen von Stonehenge ist – ein Universum so mysteriös und heilig wie nichts, das jemals zuvor von einem Künstler geschaffen worden war.

Dieses Universum von Seelen, mit seiner unendlichen Vielfalt an Formen, Farben und Stimmungen, wirkt auf den Betrachter fast wie ein religiöses Erlebnis. Es scheint, als ob es dem Künstler irgendwie gelungen wäre, in diesen Bildern die Schönheit, das Staunen, ja sogar die Heiligkeit der Seelenwelt zu erfassen. Dieses Universum von Seelenvögeln ist trotz seiner unglaublichen Komplexität sehr einfach, höchst geordnet und äußerst wunderbar. Es hat etwas Erhebendes an sich – eine Kraft, eine Gelassenheit, und vor allem ein Gefühl absoluter Freude, das uns tief berührt.
Diese Ausstellung und besonders die ungewöhnlichen Gemälde, sind wie eine Orchesteraufführung aus einer anderen Welt. Wenn wir diesen fremden, himmlischen Melodien, die von unzähligen Instrumenten gespielt werden, lauschen, verwischen sich die Noten in eine einzige Resonanz, und alles kulminiert in Stille, nicht in Klang. In der Tiefe dieser Stille versucht der Verstand nicht länger zu verstehen. Er ergibt sich dem Herzen, und das vollkommen erwachte Herz dehnt sich aus und wird ruhig und still wie der Himmel. Betrachtet man Sri Chinmoys Seelenvögel auf diese meditative Art, so wird ihre Bedeutung und Wichtigkeit eindeutig und klar.

Der Künstler gab dieser Ausstellung den Namen „Eine Million Traum-Freiheit Friedensvögel“ und widmete sie seiner Mutter zur Hundertjahrfeier ihres Geburtstages. „Diese Vögel“, sagt er, „sind ein neues Werk – ein Werk, das das Lied der Unsterblichkeit im Leben der Sterblichkeit singen wird. Wenn diese Vögel im Himmel grenzenloser Freiheit und grenzenlosen Friedens fliegen und wir uns mit ihnen identifizieren können, so werden wir daran erinnert, dass unsere eigene Seele ebenfalls im weiten Freiheitshimmel fliegt und die Botschaft unseres Geliebten Höchsten Herrn hierher, dorthin und überallhin bringt.“ Wenn wir unsere Augen schließen, können wir fast sehen, wie diese unsterblichen Seelenvögel, mit gerecktem Hals und regungslosen Flügeln, durch unseren Herzenshimmel gleiten und dabei eine Spur von Hoffnung, Schönheit und Freude hinterlassen, die wir für immer wertschätzen können.

Chidananda Burke, New York