Deren ruhige Art, von Karnaphuli Hüsch aus Zürich

Ein "Sucher" war ich wohl schon lange, doch erst mit der Lektüre der "Autobiographie eines Yogi" von Paramahansa Yogananda wurde mir das klar, und ich entwickelte den dringenden Wunsch, einen Meister zu finden. Meine Tochter wusste von diesem Wunsch. Sie war vor kurzem nach Zürich gegangen, um an einem Forschungspraktikum teilzunehmen. Eines Tages rief sie mich an und fragte: "Du suchst doch nach einem Meister. Hast du schon mal von einem namens Sri Chinmoy gehört?" Hatte ich nicht. Meine Tochter berichtete mir, dass er in Frankfurt ein Konzert geben werde. Wir könnten beide zum Konzert gehen und auch etwas Zeit miteinander verbringen. Also verabredeten wir uns etwa eine Stunde vorher zu treffen, damit auch noch ein wenig Zeit bliebe, um miteinander zu sprechen.

Meine Tochter reiste mit einem Bus zum Konzert, organisiert von Schülern Sri Chinmoys, der nicht pünktlich ankam – nicht einmal kurz vor Beginn des Konzertes war er da. Nun stand ich da, wartend mit einem Korb voller Essen (wie es sich für Mütter gehört), und mit einer Tasche voller Winterkleidung, um die mich meine Tochter gebeten hatte, und hatte nicht mal eine Eintrittskarte, da sie die ja mitbringen wollte.

Schon beim Warten war mir aufgefallen, dass Mädchen in Saris und junge Männer vollkommen in weiss gekleidet herumliefen. Dass sie Sri Chinmoys Schüler oder Schülerinnen sind, war mir gleich klar. Aufgefallen ist mir dabei auch deren ruhige Art und Bewegung.
Überhaupt beeindruckte mich sehr die Stimmung, die vor Beginn des Konzertes im Saal herrschte. Die ganze Atmosphäre war ausgesprochen friedlich, was ich bis dahin noch nicht erlebt hatte. Diese Stimmung in einer Konzerthalle war sehr ungewöhnlich. Ich muss dazu sagen, dass ich während meiner Studienzeit in Freiburg und Berlin sehr häufig klassische Konzerte besucht habe. Doch so etwas wie hier in Frankfurt hatte ich bis dahin noch nie erlebt!

Dann kam Sri Chinmoy auf die Bühne, ganz alleine. Ich sass recht weit hinten und war von vielem anderen zu sehr in Anspruch genommen, vor allem damit mich umzuschauen, ob meine Tochter hereinkommt. Aber irgendwann liess ich das bleiben und versuchte mich auf das Konzert zu konzentrieren. Ich schreibe bewusst "versuchte", denn ich hatte meine rechte Mühe mit der Musik, die dort gespielt wurde. Wie gesagt, ich war eine erfahrene Zuhörerin was klassische und professionelle Konzerte betrifft, aber wie Sri Chinmoy musizierte, das unterschied sich sehr davon.

In der Pause dann dasselbe Spiel: Ich schaute mich nach meiner Tochter um, doch dann zogen die Büchertische meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ich wurde innerlich sehr ruhig und hatte die feste Gewissheit, dass meine Tochter und ich sich schon irgendwie treffen werden, obwohl die Zuhörerschaft etwa 10 000 Menschen umfasste!
Der zweite Teil des Konzerts begann, und ich erinnere mich, wie ich mich recht unzufrieden fühlte. Doch dann sagte mir meine innere Stimme: "Gib' doch diesem Meister eine Chance - dafür bist du letztendlich hierher gekommen!" Und dann weiss ich nicht mehr genau, was geschah. Sri Chinmoy spielte auf dem Klavier und plötzlich löste ich mich wie auf, war nicht mehr physisch spürbar, sondern aufgelöst in den Schwingungen des kraftvoll gespielten Schlussakkords. Ich wurde der Klang in der Luft, es war keine Entfernung mehr da, ich war sozusagen alles in dem Raum geworden, reine Schwingung, fliessend.

An den Applaus erinnere ich mich nicht mehr, ich wahr wohl völlig "weggetreten". Noch gar nicht wieder in der Gegenwart, legte ich mir einen knallroten Schal um und stieg auf meinen Stuhl, als Zeichen für meine Tochter, die dann wirklich unmittelbar darauf hinter mir stand. Es war bereits beinahe Zeit dafür, dass ihr Bus abfuhr, aber alle anderen Fahrgäste kamen wiederum zu spät, so dass wir noch ein wenig Zeit zum Plaudern hatten.
Sie klagte über die Kälte in Zürich, innerlich wie äusserlich, und darüber, dass man niemanden kennenlernen würde, weil gerne auf Distanz blieben. Meine Antwort darauf war schon fast prophetisch: "Auf der Rückfahrt wird sich das sicher ändern. Leute, die zu diesem Konzert einen solch weiten Weg fahren, sind potentiell alle deine Freunde". Und wie es dann so kam, lud sie jemand im Bus zu einem Meditationskurs ein.

Ich hatte das Konzert-Ticket mit Sri Chinmoys Bild darauf sorgsam aufbewahrt, es an den Fuss einer grossen Stehlampe gelehnt, die ich sehr liebte, da sie mein vor kurzem gestorbener Mann gefertigt hatte. Ich setzte mich auf den Boden vor diese Lampe und meditierte auf das Bild, ohne richtig zu wissen, was ich da tat.
Als meine Tochter und ich kurz darauf telefonierten, erzählte sie mir, dass sie gleich nach dem Konzert einen Meditationskurs besuchte. Mir kam sofort meine "Prophezeiung" wieder in den Sinn.

Als meine Tochter dann Weihnachten nach Hause kam, um mich zu besuchen, erzählte sie mir ganz beiläufig, dass sie übrigens Schülerin von Sri Chinmoy geworden sei. Das war ein Schlag für mich! Denn hatte nicht eigentlich ich nach einem Meister gesucht? Das "Tragischste" daran aber war - daher auch meine heftige Reaktion - dass meine Kinder mich sehr gut dahingehend erzogen hatten, dass ich nicht zu tun habe, was sie tun. Also wenn sie zum Beispiel ins Kino gehen, dann habe ich gefälligst den Film in einer anderen Vorstellung anzusehen.
Das war für mich jetzt recht schmerzhaft, denn ich sehnte mich nach einem Meister, durfte mich diesem aber nicht "nähern"!
Während der gesamten Weihnachtsferien versuchte ich, meiner Tochter Stückchen für Stückchen an Information zu entlocken. Als ich sie fragte, ob sie etwas dagegen habe, wenn ich auch versuchte, Schülerin von diesem Meister zu werden, gab sie mir eine für sie typische Antwort: "Er nimmt sowieso nicht jeden an." Das war wie eine eiskalte Dusche für mich.
Doch mein Herz brannte und liess nicht zu, locker zu lassen. Also fragte ich, ebenso möglichst beiläufig, aber mit klopfendem Herzen, WIE man es denn anstellen muss, Schülerin zu werden. So erfuhr ich, dass man ein Foto einreicht, das dann nach New York mitgenommen und Sri Chinmoy vorgelegt wird.
Also suchte ich verschiedene Fotos von mir heraus und legte sie, wiederum höchst beiläufig, auf den grossen Esstisch. Doch selbstverständlich verlor meine Tochter kein Wort darüber. Es geschah dann in letzter Minute, als sie dabei war aus dem Haus zu eilen, um nach Zürich zurück zu reisen. Ich holte schnell ein Foto vom Tisch und fragte ganz zurückhaltend, ob sie denn bereit sei, es mit zu nehmen. "Klar", war ihre einfache Antwort, die mir wie ein himmlisches Wunder vorkam.

Am 6. Februar 1992 teilte mir meine Tochter per Telefon mit, dass ich als Sri Chinmoys Schülerin angenommen worden sei. Sie war sehr erstaunt, als ich sagte: "Ich weiss." Ich wusste dies schon seit geraumer Zeit, da ich ja regelmässig auf das Foto von Sri Chinmoy meditiert hatte und fühlte, dass ich dazu gehörte. Wenn mich jemand fragt, wann mein (neues) Leben begonnen hat, sage ich am 6. Februar 1992.

Karnaphuli Hüsch, Zürich