Sri Chinmoy kam zu mir, von Mahiya aus Berlin

Wie ich auf meinem spirituellen Lehrer Sri Chinmoy gestoßen bin, damals als ich Philosophie studierte, ist eine spannende Geschichte.

Die Spitze des Eisberges

Wenn man bedenkt, dass jeder Mensch sich nur eines kleinen Bruchteils seiner selbst bewusst ist, so finde ich das erstaunlich! Das menschliche Bewusstsein verglichen mit der Spitze eines Eisberges stellt nur einen kleinen Bruchteil unserer Gesamtpersönlichkeit dar. Der weitaus größere Teil liegt im Verborgenen, im Dunkeln unter der Wasseroberfläche.

Porträt von Elke Lindner aus dem Sri-Chinmoy-Zentrum in Berlin

Viele kennen das Bild des berühmten Eisberges. Es zeigt einen Koloss aus strahlendweißem Eis unter einem wolkenlosen, hellblauem Himmel. Oberflächlich betrachtet würde man sagen: "Was wir hier sehen ist ein Eisberg!" Aber bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass das, was wir da mit unseren Sinnen wahrnehmen können, nur die Spitze des Eisberges ausmacht.

Die Tiefenpsychologen behaupten, dass es sich mit der menschlichen Psyche, mit dem menschlichen Wesen ähnlich verhält. Nur ein kleiner Teil von uns ragt aus dem Wasser, ist für uns sichtbar und uns bewusst; unser kleines Ich. Der restliche viel, viel größere Teil liegt unter der Wasseroberfläche, im Verborgenen und stellt den Bereich des Unbewussten dar; einen Teil von uns, den wir nicht kennen. Ein Teil aus Dunkelheit und Unwissenheit, von dem aber eine enorme Kraft ausgeht.

Die Frage, die sich mir beim Betrachten des Bildes mit dem Eisberg immer heftiger aufdrängte, lautete: "Wie kann ich mir Zugang zu diesem unsichtbaren, unbewussten Teil verschaffen? Was kann ich tun, damit dieser Teil meines Wesens ans Tageslicht kommt? Was kann ich machen, dass mir dieser Teil bewusst wird?" Ich war auf der Suche nach der Antwort auf eine Frage! Nicht eine Frage, sondern die Frage! Eine Frage, die sich ein Großteil der Menschen noch nicht einmal zu stellen schien? Die Frage: "Wer bin ich eigentlich wirklich?"

"Ich denke, also bin ich."

Nach dem Abitur unternahm ich eine sieben Monate lange Weltreise. Eine Reise, auf der ich viele bereichernde Erfahrungen und Eindrücke sammelte. Eine Reise, die mich zwar veränderte, aber mir nicht so viele Antworten auf meine inneren Fragen gab. So beschloss ich im Anschluss daran, Philosophie zu studieren, da mich die Gedankenwelt der Philosophen faszinierte. Ich war beeindruckt, mit welchem Einsatz sie sich um ein logisches, "sauberes Denken" und Argumentieren, wie sie es selbst nannten bemühten. Mir gefiel es, wie etwas zu einem objektiven Betrachtungsgegenstand, einer Aussage gemacht und dann nach streng logischen Prinzipien vorgegangen wurde, um zu einem wahren oder falschem Schluss zu gelangen.

Aber schon nach einiger Zeit konnte ich dem nicht mehr sehr viel abgewinnen. Das Studium und die endlosen Diskussionen erschienen mir zu kopflastig. Die Luft in den Bibliotheken zu staubig, abgestanden und verqualmt. Ich merkte, wie ich permanent mit meinem Verstand arbeitete und "verkopfte", während ein anderer Teil meines Wesens zu verhungern schien. Bewusstseinserweiterung schien zu einem abstrakten Diskussionsgegenstand, zu einem bloßen Wort erstarrt und "Gott war (hier) tot". Eine innere Leere machte sich in mir breit! Jedoch sah ich immer wieder einen leise aufflackernden Hoffnungsschimmer am Horizont, der mir den Weg zu weisen schien; insbesondere wenn es zu Berührungspunkten mit den östlichen Philosophien und Lehren kam, die mehr zu versprechen schienen... .

Die Antwort auf meine Frage schien irgendetwas mit der Zusammenführung des östlichen und westlichen Gedankenguts zu tun zu haben. Schon zu Schulzeiten war ich über C.G. Jung und Hermann Hesse gestolpert, die viel zu dieser Thematik geschrieben hatten. Aber hier im Studium kreisten meine Gedanken hauptsächlich um die Worte der großen Philosophen: "Ich denke also bin ich." Irgendwie fühlte sich das an wie eine Sackgasse!

Mein erstes, holpriges Gebet

Einen wichtigen Hinweis fand ich dann, unerwartet irgendwo im Dunkel der Nacht, genau genommen im Morgengrauen zwischen ohrenbetäubend lauter Musik und benebelten Geistern, in einer Studentenkneipe. Dort sagte ein Kommilitone zu mir: "Wenn dein Suchen so dringlich ist, warum wendest du dich dann nicht einfach mal an Gott! Dann kannst du ihm alles erzählen und du wirst sicher eine Antwort bekommen." Bumm, das schlug ein wie eine Bombe!!!

Gott hatte bis dahin immer so etwas Heiliges für mich gehabt. Ganz weit weg. Wer heilig war oder sich so fühlte, der betete. Ich fühlte mich jedoch nie heilig und beabsichtigte auch nicht es zu werden. Deshalb kam Beten für mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage. Aber, hier war eine ganz neue Sichtweise der Dinge geboren: Man könnte natürlich auch zu Gott reden und beten, wenn man nicht heilig ist, so eben als ganz normaler Mensch, der auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist! Wie ein Kind, das zu seinem Vater spricht.

Viele Menschen und insbesondere einige Philosophen negierten Gott, behaupteten Gott existiert nicht, man müsse selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen. Das hatte ich bis dahin auch getan, nur hatte ich immer noch nicht meine Antwort gefunden. Also warum eigentlich nicht sich Gott vorstellen, irgendwie, und mal zu ihm sprechen? War ja nichts Schlimmes dabei. Und wenn es ihn wirklich gab, so würde er mir womöglich wirklich auf die ein oder andere Art und Weise antworten. Ich zögerte noch einige Tage und als mein "innerer Schrei" so stark wurde, dass ich es kaum mehr aushalten konnte, suchte ich mir einen stillen Platz, stellte mir etwas sehr Hohes, Schönes, Erhabenes vor und sandte alle meine Fragen und Bitten ins Universum, irgendwo ins All, zum Ursprung, zum Höchsten, zu Gott oder wie auch immer man sich ausdrücken möchte. Ich kam mir zwar ein bisschen unbeholfen vor, aber mein Gebet war sehr aufrichtig!

Der Hauptgewinn

Einige Tage später stieß ich im Kaufhaus auf ein Buch. Ich fühlte mich wie fremdgesteuert und sehe das Bild noch ganz klar vor mir: Ich fahre die Rolltreppe hinunter. Sehe einen großen Wühltisch mit einem riesigen Haufen reduzierter Bücher. Verlasse die Treppe und steuere wie von selbst nach rechts, um dann geradewegs auf den Bücherberg zu zu laufen. Meine Bewegungen sind ganz klar, fließend und langsam, fast wie im Traum. Ich gehe aufrecht. Mir ist, als würde ich von einer anderen Energie angetrieben. Fühle mich in meiner Mitte. Alles ist ganz ruhig und selbstverständlich. Ich spüre meinen Atem. Die Musik im Kaufhaus, das Gerede der Leute um mich herum, alles scheint wie verschwunden, ausgeblendet. Mein einziger Fokus ist der Bücherstapel, als würde meine Leben von diesem abhängen. Ich greife hinein in das Wirrwarr, schließe die Augen und stelle mir eine Trommel voller Glückslose vor. Tastend, die glatte Oberfläche des Covers erfühlend. Greife zu, um es im nächsten Augenblick herauszuziehen. Ein Taschenbuch. Neugierig betrachtete ich den Titel in großen weißen Lettern auf dem lilafarbenen Untergrund: "YOGA - Die Yoga Sutras von Patanjali" Klingt angenehm. YOGA, sieht schön aus, so hoch und klar. Kommt mir vertraut vor. Mein Verstand schaltet sich ein: "Das ist also der Hauptgewinn! Nehmen wir, ist ja geschenkt!" Ich greife meine Beute, bezahle rasch und nix wie raus hier. Hoffentlich ist der Zauber nicht gebrochen.

Suche mir ein einsames Plätzchen. Sammele mich und öffne das Buch. "1. Sutra. Und nun folgt die Disziplin des Yoga.", heißt es. Wow, die Antwort ist so kurz und doch so lang!? Spüre die Antwort hinter den kurzen Sätzen. Lese weiter. Klingen teilweise wie meine eigenen Gedanken und Erfahrungen. Unglaublich. Licht strömt aus jeder Zeile, jedem Buchstaben. Weiß nicht wie lang ich da stand oder saß. Es können Minuten, Stunden oder Jahre gewesen sein. Zeit und Raum waren einfach fort. Ich war sehr dankbar!!

Die innere Stimme

Mein Leben schien wie verändert. Manchmal fühlte es sich an, als würde ich von einem Fluss getragen. Ich musste mir keine Gedanken machen, vieles lief wie von selbst, ohne Spannung oder Widerstand. Ich fühlte mich im Einklang mit mir und der Welt. Ich spürte mehr Frieden, innere Ruhe und Gelassenheit. Manchmal wurde ich zwischen drei und vier Uhr nachts wach und spürte eine enorme Energie. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und wusste nicht so recht was ich machen sollte. Meditieren vielleicht, aber wie machte man das eigentlich? Ich war hellwach! Dann versuchte ich meist ein bisschen Tagebuch zu schreiben oder zu lesen, bis ich müde wurde und endlich wieder einschlafen konnte. Vielleicht würde mein Suchen bald ein Ende haben. Vielleicht waren dies die Vorzeichen?

An einem wunderschönen Spätsommernachmittag saß ich allein im Gastgarten meines Lieblingscafes. Die Sonne wärmte mein Gesicht und ich hing meinen Gedanken nach. Ich hatte schon längere Zeit kein "Zeichen" bekommen, ob ich mich noch auf dem richtigen Weg befand. Was sollte ich tun? Sollte ich meine Suche irgendwie antreiben? Vielleicht an einen anderen Ort gehen oder eine Reise machen? Plötzlich hörte ich eine Stimme, ganz klar und deutlich sagen: "Bleib hier, an diesem Ort!" Was war das? Woher war diese Stimme gekommen? Vielleicht war ich ja jetzt wirklich verrückt geworden, schizophren oder paranoid oder so was.
Ich schaute nochmals um mich. Kein Zweifel: Die Stimme war irgendwie aus mir gekommen. Ich war ganz aufgeregt. Mein Gott, das war meine innere Stimme gewesen!

Was ist ein Meister?

So tat ich, was die Stimme mir befohlen hatte und harrte aus auf das, was da kommen möge. Zwischenzeitlich verschlang ich sämtliche Bücher über Yoga. Zu meinen absoluten Favoriten zählte Swami Vivekanada und seine Werke: Karma-Yoga, Bhakti-Yoga, Jnana-Yoga und Raja-Yoga. Ich las alles vorwärts und rückwärts und unterstrich mit meinem Bleistift fast die gesamten Zeilen, weil mir alles interessant und wichtig erschien. Die Bücher waren für mich so einfach und so verständlich. Sie fühlten sich ganz anders an als die trockenen Abhandlungen der meisten Philosophen. Ich spürte die absolute Hingabe hinter dem, was Swami Vivekananda schrieb. Bei ihm handelte es sich nicht um trockenes, intellektuelles Bücherwissen, sondern um gelebte Wahrheit. Alles was er schrieb, sprach mir aus der Seele, wäre da nur nicht diese eine Sache gewesen, die in mir immer so ein komisches Gefühl der Unruhe aufsteigen ließ. Hier und da meinte er, sinngemäß wiedergegeben: "Wenn jemand das Leben so empfunden und erfahren hat, dann kann dies eine Vorbereitung auf das spirituellen Leben sein. Und es sei ratsam und an der Zeit, sich einen spirituellen Lehrer, einen Meister zu suchen, da dieser einem auf dem weiteren spirituellen Weg am besten helfen könne. Die Fahrt über das Meer der Unwissenheit allein vornehmen zu wollen, sei nicht ratsam. Es wäre das gleiche, als würde man versuchen, den großen weiten Ozean auf einem kleinen Holzfloß zu überqueren. Scheitern vorprogrammiert."

Hoppla, was war das? Was meinte er damit? Das verstand ich nicht? Wieso einen Lehrer? Ich hatte genug Lehrer gehabt und die hatten mir alle keine zufriedenstellenden Antworten auf meine Fragen geben können. Lehrer? Brauch' ich nicht. Ich hatte ja Vivekanandas Bücher, das reichte mir. Aber dann spürte ich irgendwann, dass es nicht weiter ging. Zu dieser Zeit brachen zwei meiner Studienkollegen nach Indien auf. Sie wollten nach Pondicherry einen Ashram besuchen, vielleicht auch einen Guru finden. Jetzt fingen die auch noch damit an! Indien. Ashram, Meister, Guru. Was sollte das?

Nein, das war nichts für mich! Ich wollte nicht nach Indien in einen Ashram. Ich hatte meine "Weltfahrt" schon hinter mich gebracht und fühlte mich ganz wohl hier. Das schien stimmig, dass ich hier war, an diesem Ort und ich rührte mich nicht vom Fleck, hatte ja auch die Stimme gesagt. Für die anderen war das vielleicht das Richtige mit dem indischen Meister, für mich kam das wohl nicht in Frage. Ich blieb ohnehin immer sehr bodenständig und nüchtern, wenn die anderen anfingen mit ihren extravaganten Sachen herum zu spinnen. Und so wurde es Herbst und dann kalter Winter.

Das abgeschlagene Bein

Seit meinem Gebet und der Entdeckung der Yoga-Philosophie waren nun schon ein gutes Jahr vergangen. Wenn ich so auf diese Zeit zurückblicke, so sehe ich nun ganz deutlich, dass diese damalige Phase eine schrittweise Vorbereitung darstellte, auf das was dann kommen sollte. Ansonsten hätte ich das wohl nie annehmen können. Der Schritt wäre zu groß gewesen. Eine Sache schien jedoch noch unklar.

Eines Nachts hatte ich einen Traum. Ich ging mit meinen damaligen Freunden spazieren, mit denen ich bis dahin durch dick und dünn gegangen war und zu diesem Zeitpunkt auch noch eine Wohnung teilte. Ich wollte in eine andere Richtung gehen als die anderen, aber hatte Angst. Es drängte mich weg von ihnen, aber mein rechtes Bein wollte nicht mit. Es hinderte mich daran und zog meinen gesamten Körper in die Richtung meiner alten Freunde, die in eine entgegengesetzte Richtung gingen.
Unerwartet und völlig überrascht über mich selbst, schlug ich mein rechtes Bein kurzer Hand ab. Es blutete fürchterlich! Aber ich hörte mich im Traum hell auflachen. Alle schauten mich voller Angst und Entsetzten an: "Was soll das denn? Was machst du?" Aber ich fühlte und sagte: "Ja, ich habe das Richtige getan!" Ich lachte, ging fort und drehte mich nicht mehr um. Ich wusste, nun musste ich allein weitergehen, einen anderen Weg einschlagen. Weder hatte ich Schmerzen, noch fühlte ich mich behindert. Ganz im Gegenteil, ich fühlte mich befreit. Endlich hatte ich einen Teil von mir abgetrennt, der schon längst nicht mehr zu mir gehörte und mich in die Irre leitete. Dann ging alles ganz schnell. Wenige Tage später fand ich eine neue Wohnung und zog aus.

Der Yoga-Pfad

Einige Tage nach meinem Umzug wollte ich gerade zur Tür hinein, in mein Lieblingscafe, als mein Blick magisch nach rechts gezogen wurde, und zwar zum Schaufenster des Buchladens von nebenan. Ich gab dem nach und erblickte ein Plakat. "Komisch wie das platziert ist", dachte ich bei mir, "fast in der Mitte des Schaufensters." Ich ging näher ran, fühlte mich förmlich gerufen. Auf dem Plakat stand: "Der Yoga–Pfad". Und: "Erhebe dich, erwache, verwirkliche und erringe das Höchste mit der Hilfe der erleuchtenden, uns führenden und erfüllenden Meister. Der Weg ist scharf wie des Messers Schneide, schwer zurückzulegen, hart zu gehen, erklären die ehrwürdigen Weisen. (Upanischaden)"

Zeichnung von Sri Chinmoy

Als erstes musste ich an das "Magische Theater" in Herrmann Hesses Steppenwolf denken. Eine Einladung zur Selbstschau! Das war aufre gend, aber aus diesen Zeilen horchte ich etwas anderes heraus. Klarheit, Einfachheit, Zielgerichtetheit. Nicht so etwas wie Lachyoga oder ein bisschen Gymnastik zur Entspannung. Das klang eher wie ein richtig ernstzunehmender Weg. Ein Lebensweg. Das Suchen nach dem höchsten Ideal! Das war genau das, was ich wollte. Auf dem Bild, das auf dem Plakat abgebildet war, war eine gezeichnete Figur zu sehen, die ein wenig abstrakt aussah. Diese Figur erschien weder männlich noch weiblich, eher wie ein Baby, das von Lichtstrahlen umgeben war. Weiter war zu lesen. 12. Februar um 19 Uhr im Café Shangri-la.

Der Abend, der mein Leben veränderte.

Dieser Abend könnte mein Leben verändern, das spürte ich. Ich ging voller Neugierde dort hin und war froh, dass viele Leute gekommen waren. So konnte ich in der Menge untertauchen und alles aus sicherer Entfernung beobachten. Es grauste mir vor Veranstaltungen in kleineren Gruppen, wo erst meditiert wurde und dann anschließend beim Tee-Trinken jeder anfing über seine Probleme zu reden. Der Vortragende war unerwartet jung und hatte eine angenehme Ausstrahlung. Er sprach von seinen Erfahrungen, die ich sehr gut nachvollziehen konnte. Er hatte ähnliche Dinge erlebt wie ich und mir ging es wieder wie beim Lesen von Swami Vivekanadas Worten. Ich spürte, dass dieser Mensch lebte, was er sprach. Er lebte für ein Ideal! Dass es so etwas wirklich gab?!
Der junge Mann wirkte so einfach, aber hatte doch so viel erlebt. Er sprach auch von seinem Meditationslehrer, seinem Meister Sri Chinmoy und wir machten einige Übungen, die Sri Chinmoy empfohlen hatte. Wir atmeten in der Gruppe gemeinsam Reinheit, Frieden oder Licht ein und das Gegenteil aus. Ich fand die Übung einfach, aber sehr wirksam. Die Flötenmusik von Sri Chinmoy gab mir ein Gefühl der Ruhe und Geborgenheit. Als ich zu Hause ankam und das Foto von Sri Chinmoy auf dem Cover des Meditationsbuches betrachtete und nochmals seine Musik anhörte, musste ich lange weinen. Es war ein schönes Weinen. Ich spürte, ich war heimgekehrt. Ich wusste, mein Suchen hatte hier sein Ende gefunden.

Der richtige Zeitpunkt

Dies war der erste von drei auf einander folgenden Vortragsabenden gewesen. Die ganz Woche wandelte ich umher, wie auf Wolken schwebend. Ich ließ den Vortragsabend immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge Revue passieren und rief mir die Worte des Vortragenden zurück ins Gedächtnis. Aber es waren weniger die Worte, die mich beeindruckt hatten, als vielmehr die gesamte Atmosphäre. Es war mir gewesen, als hätte ich eine Schwelle überschritten, als wäre ich in eine neue, mir unbekannte Welt eingetreten. Der Raum war erfüllt gewesen von einer andersartigen Energie oder Schwingung, wie ich sie zuvor noch nie gespürt hatte. Die Luft schien wie elektrisch aufgeladen. Die Atmosphäre sehr lichtvoll, hell und leicht. Äußerlich war mir nichts Außergewöhnliches aufgefallen, nichts jedenfalls, das mit den Sinnen hätte wahrgenommen werden können. Es musste sich folglich um etwas Feinstofflicheres handeln.

Ich kam mir so unbeschwert und glücklich vor, wie nie zuvor. Äußerlich war nicht so viel passiert, aber innerlich spürte ich eine starke Veränderung. Ich hatte etwas völlig neues, etwas völlig andersartiges, in meinem Leben nie da gewesenes entdeckt. "Und nun folgt die Disziplin des Yoga!", hörte ich es in mir sagen. Mir wurde nun schlagartig klar, was das bedeutete: Man musste bereit sein und nur dann würde man erkennen können. Der richtige Zeitpunkt war gekommen. Ich konnte den kommenden Dienstag kaum erwarten. Aber mein zweifelnder, analytischer Verstand schien noch nicht ganz überzeugt. "Vielleicht würde ja dann doch noch die große Ernüchterung kommen. Mal abwarten", dachte ich kritisch. Und so begab ich mich prüfend, skeptischen Blicks zum nächsten Treffen. "Irgendwo findet sich dann womöglich doch noch ein Haken."

Die Musik von Sri Chinmoy

An diesem Abend stellte uns der sympathische junge Mann, der wieder diese angenehme, unbefangene Leichtigkeit ausstrahlte, eine spezielle Meditationsmusik von Sri Chinmoy vor. Das war etwas ganz anderes als diese melodiösen, sphärischen Trallala-Klänge, die ich bis dahin für Meditationsmusik gehalten hatte. Es hörte sich an wie ein Hämmern oder ein unkoordiniertes Schlagen von Stöcken und Trommeln. Es war so wirr, aber doch so harmonisch und berührend. Es war mir als würde diese Musik etwas aus meinem Innern an die Oberfläche befördern, etwas aus der inneren Welt wiederspiegeln, wie Gedanken die kommen und gehen und unablässig hämmern, schlagen und trommeln und gehört werden wollen … . Das Hämmern und Schlagen wurde immer heftiger schneller und lauter, um dann auf einmal zu verstummen. Schluss.
Ich erfuhr eine tiefe Ruhe, R u h e. Frieden. Was für ein Frieden nach diesem Hämmern, das Hämmern in meinem Kopf!!! Unfassbar! Jemand, der so spielen konnte, musste etwas ganz Besonderes sein, ein außergewöhnlicher Mensch! Was für ein Mensch das wohl ist? Etwas noch nie da gewesenes. Jemand noch nie da gewesenes! Ich war zu tiefst beeindruckt. Sprachlos! Vielleicht war dieser Mensch die Verkörperung eines übermenschlichen Wesens, eines Gottmenschen, über die ich so häufig in meinen Studien theoretisiert hatte.
Wieder ging ich wortlos heim. Wieder wandelte ich eine Woche wie auf Wolken und wieder wälzte ich vor meinem inneren Auge die Geschehnisse dieses Abends hin und her. Aber, immer noch kein doppelter Boden, kein Haken in Sicht.

Das Bild des Meisters

An jenem letzten Abend hatte der Vortragende mehrere Bilder von verschiedenen Meistern mitgebracht und nebeneinander aufgestellt. Er gab Erklärungen zu den einzelnen spirituellen Meistern und einige kamen mir, wohl aus verschiedenen spirituellen Büchern, bekannt vor. Von seinem Lehrer, den er auch seinen Guru nannte, hatte er zwei sehr unterschiedliche Bilder dabei.

Porträtfoto von Sri Chinmoy

Das eine Bild zeigte Sri Chinmoy freundlich lächelnd, während das andere Bild ihn in einem sehr hohen meditativen Bewusstsein zeigte. Ein sehr außergewöhnliches Bild! Fremdartig.
Ich war neugierig, was nun kommen würde. Aber was erwartete ich? Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits klar geworden, dass DAS, was es hier zu sehen, zu hören und zu erfahren gab, ganz außergewöhnlich war. DAS was es hier gab, war ganz anderer Art, nicht etwas, das einem an jeder Ecke begegnete oder präsentiert wurde.
DAS war nicht zu finden in Massenmedien oder oberflächlichen Unterhaltungsprogrammen. DAS war für Menschen bestimmt, die auf der Suche waren. Sucher nach der Wahrheit, einem Ideal, nach dem Vollkommenen. Menschen auf der Suche nach ihrem Selbst, nach ihrem Ursprung, und ich spürte ganz deutlich, dass sich hinter diesen Bildern, hinter dieser Musik und hinter dieser spirituellen Dichtung etwas verbarg, DAS mir den Weg weisen konnte und mir die Antworten zu liefern vermochte auf meine Frage: "Wer bin ich eigentlich wirklich?"

Die Antwort war ganz einfach, wie alles hier. Alles was ich suchte, ist immer da gewesen. Es lag bereits in mir, und zwar zu einem einzigen Zweck, um von mir wiederentdeckt und wachgerufen zu werden, "mit Hilfe der großen Meister", eines großen Meisters, meines Meisters. Und obwohl ich es zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, so spürte ich es doch ganz deutlich: Ich war reich beschenkt worden. Mir war eine große Gnade zu teil geworden.
Lange war ich umhergeirrt und beinahe ertrunken in der Oberflächlichkeit des Lebens. Aber hier gab es Tiefe, hier gab es Antworten, hier gab es Erfüllung, das spürte ich ganz deutlich. Ich wusste, ich konnte getrost an Bord gehen und eine der spannendsten Fahrten antreten, die man sich nur vorstellen kann, die Rückkehr zum Ursprung, zum Selbst.

Und so könnte es keinen schöneren Schluss zu meiner kleinen Geschichte geben, die, wie ich gerade merke, eigentlich nur eine Einleitung darstellt, als folgende Gedichte meines über alles geliebten Lehrers, Meisters und Gurus Sri Chinmoy.

Gedichte, die den Übergang von einem alten in ein neues Leben zum Thema haben. Das Zurückblicken und Abschied nehmen von einem alten Leben, das voller Täuschung und Lückenhaftigkeit ist und uns keine wirkliche Erfüllung und Glück zu geben vermag. Das hatte ich schmerzhaft erfahren müssen, um so heranreifen zu können für meinen Übergang in mein neues Leben, ein geistiges, ein spirituelles Leben. Ein Leben, das unvergänglich ist und einem durch nichts und niemanden genommen werden kann. Ein Leben, das mir Glück und Erfüllung geschenkt hat. In tiefer Dankbarkeit.

Mahiya, Berlin

Die Dichtung von Sri Chinmoy

Wer will zum anderen Ufer des Flusses?
Auf der anderen Seite ist das Goldene Ufer.
Kommt, kommt, die Zeit vergeht.
Hier ist Hoffnung, dort wird sie erwidert,
Hier ist Suchen, dort wird es erfüllt,
Hier ist Tod, dort ist Leben.
Kommt, kommt, alle,
Die ihr zum anderen Ufer wollt -
Die Zeit vergeht.

- Sri Chinmoy

Wer den Klang Deiner Schritte gehört hat,
Wer das Lächeln in Deinem Antlitz
Erblickt hat,
Wie kann sich dieser mit den kleinen Dingen
Auf Erden zufrieden geben?
Wie kann er leben,
Ohne Dich als sein eigen zu lieben?
Wenn mein Körper und meine Lebenskraft
Gleich einem Insekt in einem lodernden Feuer
Zu Asche brennen,
Bin ich dennoch sicher, dass ich einen Platz
In der Tiefe Deines Herzens haben werde.
Wer nichts über Dich weiß,
Kann Dich weiterhin nicht beachten,
Aber nicht so ich, niemals.
O Göttliche Mutter, nimm uns,
Jene die Dich kennen
Und jene, die Dich nicht erkannt,
In Deinen nektargleichen, himmlischen Schoß.

- Sri Chinmoy