Ein Geschenk von Sri Chinmoy, von Animesh Harrington, Sydney
In einem Winkel meines Schreibtisches befindet sich ein Stück Papier, das ich seit fast 35 Jahren aufbewahre. Es ist ein Stück von einer Papierserviette, die normalerweise eine Lebenserwartung von ein paar Minuten hat. Dieser besondere Gegenstand wurde jedoch mit einem gewissen Hauch von Unsterblichkeit durchdrungen. Trotz des erbarmungslosen Voranschreitens der Zeit und meiner unzähligen Umzüge zwischen Kontinenten, Ländern, Staaten und Städten, ist dieses Stück der Serviette bei mir geblieben. Es war im Jahre 1976, als ich es in meine Hände bekam.
Sri Chinmoy besuchte im Sommer jenes Jahres Europa, um eine Reihe von Vorträgen über
verschiedene Aspekte des spirituellen Lebens zu geben. Die erste Station in seinem sehr vollen Reiseplan war York, eine Stadt im Norden Englands, die berühmt für ihre prachtvolle gotische Kathedrale ist: York Minster ist die größte Kathedrale im Norden Europas. Sri Chinmoys Vortrag fand jedoch an einem viel kleineren Ort, dem Friends Meeting Haus in Friargate statt.
Am Morgen seines Vortrages ging Sri Chinmoy in ein benachbartes Café namens Riverside Cafeteria. Und während er auf sein Essen wartete, begann er auf einer Papierserviette herumzukritzeln. Was er zeichnete, waren Gruppen von Vögeln und anderen kleinen Geschöpfen. Einige saßen auf Ästen, andere befanden sich im freien Flug; einige hatten einen sorgenvollen Blick, andere wirkten selbstsicher ihn ihrem fröhlichen Spiel; einige waren gefiedert und schienen abgeschirmt von der harten Realität der Welt; andere bestanden aus den klaren, flinken Linien eines Meisterzeichners, der mit ein paar wenigen unbeugsamen Linien die Essenz der Seele in Bewegung enthüllte.
Dies war nicht das erste Mal, dass Sri Chinmoy diese Art von Bildern gezeichnet hatte. Er zeichnete öfters schnell ein Vögelchen neben seine Unterschrift oder unter eine seiner Notizen. Diese Vogelzeichnungen wurden nicht zu seinen offiziellen Kunstwerken gezählt. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er nach dem Essen aufstand und die Papierserviette auf dem Tisch zurückließ. Sushumna Mary Plumbly, die damalige Leiterin des Londoner Sri Chinmoy Meditationszentrums, holte glücklicherweise die Serviette, faltete sie vorsichtig und bewahrte sie sicher auf.
In ihrem Haus in London brachte sie ein paar Tage später dieses wertvolle Andenken an Sri Chinmoys Besuch zum Vorschein. Mit Begeisterung in ihren Augen entfaltete sie das wertvolle Kunstwerk und legte es offen auf den Tisch. Interessanterweise ragten die Tintenstriche an keiner Stelle über die Faltränder der Serviette. So war es möglich, die Serviette vorsichtig in vier gleich große Teile zu reißen, ohne dabei das Kunstwerk zu zerstören. Sie behielt ein Stück für sich und gab dreien von uns, die im Café in York dabei gewesen waren, ebenfalls je ein Viertel der Serviette. So geschah es, dass aus einem Stück vier Teile wurden – wie die vier Himmelsrichtungen.
Wenn ich heute meinen Teil der Serviette in der Hand halte, fühlt er sich so leicht wie eine Feder an. Das Papiergewebe hat fast kein Gewicht – die Zeit hat seine Struktur angegriffen und ausgetrocknet, und es scheint nur noch durch die Tintenstriche auf der Oberfläche zusammenzuhalten. Es ist in der Tat so delikat, dass ich mir fast vorstellen kann, wie die winzigen Vögelchen davonfliegen, und diese Skizze physischer Realität zu einem himmlischen Aufenthaltsort transportieren. Diese kleine Vogelzeichnung auf einem 6 x 6 Zoll quadratischen Papierstück enthält für mich Eindrücke der Vergangenheit, wie auch eine Vision der Zukunft; sie ist ein Punkt in Zeit und Raum, an dem Erinnerungen und Schicksal die Möglichkeit haben, sich auszudehnen, hinaus über die riesige Leinwand der Zeit.
Persönliche Erinnerungen an jenen Tag in York scheinen in die Textur dieses kleinen Kunstwerkes eingewoben zu sein: die modernen Sehenswürdigkeiten einer historischen Stadt; die ewige Vision und meditative Stille eines zeitgenössischen spirituellen Meisters.
Am späten Nachmittag fuhren wir nach Leeds und von dort zurück nach London. Ich erinnere mich daran, dass wir in einem indischen Restaurant zu Abend aßen und dann auf der M1 weiterfuhren. Es war eine milde Sommernacht, und Sri Chinmoy war in entspannter Stimmung. Er begann ein Lied nach dem anderen zu singen, z. B. „Ore Mor Kheya“, „Ekbar Shudhu Balo“…
Er sang die Lieder in seiner bengalischen Muttersprache, einer so schönen, melodischen Sprache, dass für das Verständnis der tiefen Gefühle, die in den Liedern zum Ausdruck kommen, eine Übersetzung kaum notwendig ist. Ein Lied, dass er bei dieser Fahrt sang, veranschaulicht ganz besonders, wie sich Sri Chinmoy mit dem Bildnis des Vogels als Symbol für die spirituelle Freiheit identifiziert. Hier ist Sri Chinmoys eigene Übersetzung ins Englische:
Oh Vogel meines Herzens,
fliege weiter, fliege weiter.
Schaue nicht zurück.
Was auch immer die Welt bietet
ist bedeutungslos, nutzlos
und völlig falsch.
- Sri Chinmoy
Sri Chinmoy sang über eine Stunde lang – tief versunken in die verzauberte Welt der Melodie der Seele. Die Lichter auf der Autobahn fügten eine ätherische Dimension hinzu, als ihre Farben auf der Windschutzscheibe des Autos spielten. Meine Hände lagen auf dem Lenkrad; mein Blick war auf die Straße vor uns gerichtet; doch mein Herz war tief in die Lieder versunken. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich damals wie im Himmel fühlte – ich hätte mir keinen besseren Ort vorstellen können, an dem ich hätte sein wollen. Heute, Jahrzehnte später, haben diese Erinnerungen nichts von ihrer ursprünglichen Glückseligkeit verloren. Vielleicht flogen diese kleinen Vögelchen schon damals Richtung Zukunft und trugen eine kleine Portion Göttlichkeit mit sich.
Kaum jemand konnte vorhersehen, dass einfache Skizzen, wie jene, die Sri Chinmoy in York gemalt hatte, sich eines Tages zu einer völlig neuen Kunstform entwickeln würden, einer Form, die die Kunstliebhaber auf der ganzen Welt begeistern und verzaubern würde. Im Jahre 1991 begann Sri Chinmoy ernsthaft und in phänomenalem Tempo Vögel zu zeichnen. Er ließ keine Gelegenheit aus, um die kleinen Seelenvögelchen die er so sehr liebte, zu erschaffen. In den folgenden Jahrzehnten zeichnete er mehr als 16 Millionen von ihnen. Diese Kunstwerke wurden in vielen angesehenen Galerien der Welt ausgestellt und ernteten von allen Besuchern große Anerkennung und Bewunderung. Sri Chinmoys seelenvolle Vogelzeichnungen haben bewiesen, dass sie die Fähigkeit besitzen, Raum und Zeit zu transzendieren. Sie tragen eine Inspiration in sich, die sich bis weit in die Zukunft ausbreiten wird. Somit lege ich diese delikate Skizze zurück in das Buch der Geschichte, ein Beweis, dass selbst in jenen frühen Tagen die Feder des Künstlers niemals zur Ruhe kam; sie war stets bereit, die Schönheit der Inspiration festzuhalten, wo auch immer sich Sri Chinmoy gerade befand, und welche Mittel auch immer ihm gerade zur Verfügung standen.
Animesh Harrington, Sydney, Australien